073 Komplexität und Demokratie

[S. 14] Von sozialer Integration sprechen wir im Hinblick auf Institutionensysteme, in denen sprechende und handelnde Subjekte vergesellschaftet sind; Gesellschaftssysteme erscheinen hier unter dem Aspekt einer Lebenswelt, die symbolisch strukturiert ist. Von Systemintegration sprechen wir im Hinblick auf die spezifischen Steuerungsleistungen eines selbstgeregelten Systems; Gesellschaftssysteme erscheinen hier unter dem Aspekt der Fähigkeit, ihre Grenzen und ihren Bestand durch Bewältigung der Komplexität einer unsteten Umwelt zu erhalten. Beide Paradigmata, Lebenswelt und System, haben ein Recht; ein Problem stellt ihre Verknüpfung dar.

[S. 178ff]

5. Komplexität und Demokratie

Luhmann betrachtet eine Kommunikationstheorie, die Legitimationsprobleme mit Bezugnahme auf die diskursive Einlösung von normativen Geltungsansprüchen analysiert, als »out of step mit der gesellschafllichen Realität«. Nicht die Begründung von Normen und Meinungen, d. h. die Konstituierung einer vernünftigen Praxis, sondern der Selektionszwang von komplexen Handlungssystemen in einer Welt, die kontingent ist, d. h. auch anders sein könnte, wählt Luhmann zum Ausgangsproblem: »Habermas sieht das Subjekt, wie schon die vorausgehende Intersubjektivität, primär als Potential wahrheitsfähiger Begründung; die Subjektheit des Menschen besteht für ihn in der Möglichkeit, in intersubjektiver Kommunikation vernünftige Gründe angeben bzw. sich solchen Gründen oder der Widerlegung eigener Gründe fügen zu können. Damit erwischt er jedoch nur einen abgeleiteten (und zudem, wie mir scheint, epochenbedingten, längst überholten) Aspekt, der einen viel tiefer angesetzten Subjektbegriff voraussetzt.« Der Versuch, »den überlieferten Anspruch abendländischer Humanität mit dem Titel der Vernunft an einen [solchen] Subjektbegriff zu binden«, müsse zu einer systematischen Unterschätzung des Problems der Weltkomplexität führen: »Das Subjekt muß zunächst als kontingente Selektivität gedacht werden.« Die Herrschafts- und Verteilungsprobleme, die sich unter dem Gesichtspunkt der Klassenstruktur einer Gesellschaft stellen, sind obsolet geworden; sie verraten eine »alteuropäische« Perspektive, in der die eigentlichen Probleme, die unter dem Gesichtspunkt von Alternativenbereichen und Entscheidungskapazitäten auftreten, verdeckt werden.

»Fast alles könnte möglich sein, und fast nichts kann ich ändern« — dieser Satz drückt Luhmanns Grunderfahrung aus. Diese könnte so interpretiert werden, daß hochkomplexe Klassengesellschaften einerseits aufgrund ihres Produktivitätspotentials den Spielraum der Möglichkeiten, ihre Umgebung zu kontrollieren und sich selbst zu organisieren, erheblich erweitert haben; daß sie aber andererseits infolge ihres naturwüchsigen Organisationsprinzips Beschränkungen unterliegen, die eine autonome Nutzung des abstrakten Möglichkeitsraumes verhindern und überdies einen Überhang an selbst erzeugter (vermeidbarer) Umweltkomplexität zur Folge haben. Tatsächlich interpretiert Luhmann die erwähnte Erfahrung jedoch in dem konträren Sinne, daß das Gesellschaftssystem mit einem drastisch erweiterten Kontingenzspielraum Freiheitsgrade erwirbt, mit denen es sich selbst unter einen wachsenden Problem- und Entscheidungsdruck setzt: die Strukturen und Zustände komplexer Gesellschaftssysteme sind zumindest im Bereich von Organisation und Politik zufällig und damit praktisch wählbar geworden, aber doch so, daß die Auswahl aus dem selbst eröffneten Alternativenbereich jetzt ein Problem darstellt, das alle anderen relativiert. Nachdem Luhmann zwischen bestimmter und unbestimmter System- und Umweltkomplexität unterschieden hat, bildet nicht mehr die (unbestimmte) Umweltkomplexität, sondern die durch systemrelative Umweltentwürfe bestimmbar gemacht Umweltkomplexität, also die Selbstüberlastung des Systems mit eigenen Problemlösungskapazitäten, das eigentliche Reduktionsproblem. Hochkomplexe Gesellschaftssysteme müssen sich an den Folgeproblemen ihrer wachsenden Autonomie abarbeiten, d. h. an den aus ihrer Freiheit resultierenden Notwendigkeiten.

Sobald diese Problempriorität festgesetzt ist, ergeben sich die weiteren Schritte von selbst. Das Problem der Weltkomplexität erfordert eine essentialistische und ausschließliche Anwendung des Systembegriffs. Daraus folgt: (1) Komplexe Gesellschaften werden nicht mehr über normative Strukturen zusammengehalten und integriert; ihre Einheit stellt sich nicht länger intersubjektiv über eine durch die Köpfe der vergesellschafteten Individuen hindurchreichende Kommunikation her; die unter Steuerungsaspekten behandelte Systemintegration wird vielmehr von einer unter Lebensweltaspekten zugänglichen Sozialintegration unabhängig. (2) Das von der Systemidentität abgekoppelte Selbst- und Weltverständnis der Menschen rutscht, soweit es »alteuropäisch«, d. h. an normativen Ansprüchen orientiert bleibt, in die Provinzialität ab; oder es löst sich von Normorientierungen überhaupt und bringt auch den Einzelnen in die Bewußtseinslage des Systems, indem er lernt, »eine unendlich offene, ontisch letztlich unbestimmte kontingente Welt zu entwerfen, auszuhalten und als Grundlage alles selektiven Erlebens und Handelns zu benutzen«. (3) Die Reproduktion hochkomplexer Gesellschaften hängt von dem ausdifferenzierten Steuerungssystem, dem politischen Teilsystem ab. Durch Steigerung seiner Informationsverarbeitungskapazität und seiner Indifferenz gegenüber den übrigen sozialen Teilsystemen gewinnt das politische System eine einzigartige Autonomie innerhalb der Gesellschaft: »Die Politik kann ihre Entscheidungsgrundlagen nicht mehr voraussetzen, sondern muß sie sich (selbst) beschaffen. Sie muß ihre eigene Legitimation leisten in einer Lage, die sowohl im Hinblick auf die Konsenschancen als auch im Hinblick auf erstrebte Ergebnisse offen und strukturell unbestimmt definiert ist.« Die Trennung des legitimatorischen Systems von der Verwaltung ermöglicht die Autonomie der Entscheidungsprozesse gegenüber dem Input an verallgemeinerten Motivationen, Werten und Interessen. (4) Da das Gesellschaftssystem keine Welt mehr konstituieren kann, die die Identität der Teilsysteme prägt, lassen sich die Funktionen der Politik nicht mehr mit dem Blick auf eine von der Gesellschaft: dem administrativen System abverlangte »richtige« Politik verstehen; »auf eine knappe Formel gebracht, geht es darum, daß das politische System seine Identität nicht mehr von der Gesellschaft ableiten kann, wenn es von der Gesellschaft gerade als ein kontingentes, auch anders mögliches System gefordert wird. Es muß sich dann in einer mit alteuropäischen Begriffen nicht mehr zu erfassenden Bewußtseinslage durch Strukturselektion selbst identifizieren.« Unter diesen Voraussetzungen ist es sinnlos, die Reflexivität der Verwaltung dadurch steigern zu wollen, daß man sie über diskursive Willensbildung und Partizipation mit der Gesellschaft rückkoppelt: »Entscheidungsprozesse sind […] Prozesse des Ausscheidens anderer Möglichkeiten. Sie erzeugen mehr Neins als Jas, und je rationaler sie verfahren, je umfassender sie andere Möglichkeiten prüfen, desto größer wird ihre Negationsrate. Eine intensive, engagierende Beteiligung aller daran zu fordern, hieße Frustrierung zum Prinzip machen. Wer Demokratie so versteht, muß in der Tat zu dem Ergebnis kommen, daß sie mit Rationalität unvereinbar ist.« (5) Der neue systemtheoretische Ansatz führt ein Universalität beanspruchendes Sprachsystem mit sich, das sich auf dem Wege einer Umformung klassischer Grundbegriffe (wie Politik, Herrschaft, Legitimität, Macht, Demokratie, öffentliche Meinung usw.) gegenüber konkurrierenden Ansätzen interpretiert. Jede dieser systemtheoretischen Übersetzungen ist zugleich eine Kritik an der Unangemessenheit der »alteuropäischen« Begriffsbildung, die mit dem evolutionären Schub zur postmodernen Gesellschaft veraltet ist; indem das Problem der Weltkomplexität die Führung übernimmt, ist das Problem einer vernünftigen Organisation der Gesellschaft zusammen mit einer Motivbildung über wahrheitsfähige Normen gegenstandslos geworden.

Dem unhandlichen Problem des Verhältnisses von Komplexität und Demokratie läßt sich noch am ehesten auf der Ebene der Planungstheorie ein bearbeitbares Format geben. Die Planungsdiskussion der letzten zehn Jahre hat u. a. zu einer Gegenüberstellung von zwei Politiktypen, in denen sich zugleich Planungsstile ausdrücken, geführt: die pluralistisch-inkrementalistische Prozeßpolitik, die sich überwiegend auf Konditionalplanung beschränkt, auf der einen Seite und die rational-komprehensive Systempolitik, die überwiegend Programmplanung erfordert, auf der anderen. Man kann die beiden Typen als das jeweilige Ende einer Skala verstehen, auf der die Handlungs- und Reaktionsmuster planender Bürokratien abgebildet werden können. Wenn wir eine weitere Dimension, nämlich die Partizipation der vom Planungsprozeß betroffenen Mitglieder des Gesellschaftssystems, hinzunehmen, ergeben sich die folgenden Politiktypen:

[Schema]