083 Allgemeine Eigenschaften der Kulturkreisläufe

Die zur Diskussion stehenden Systeme haben stets eine Anzahl gemeinsamer Aspekte und bilden praktisch nur Varianten eines allgemeinen Schemas. Indem wir dieses allgemeine Schema erfassen, werden wir die elementaren Mechanismen finden, welche die Situation des Künstlers oder wissenschaftlichen Schöpfers im Verhältnis zur Gesellschaft bestimmen sowie einige ihrer Triebfedern erkennen. Es zeigen sich drei Hauptelemente der Kreisläufe in der Verbreitung der Kultur:

  1. Die Verbreitung des Werkes, sei es das Manuskript eines Dichters, eine technische Abhandlung über Elektrochemie oder eine Skulptur, bedingt immer mehrere Etappen, und zwar mindestens zwei. Die erste spielt sich innerhalb der Beziehung des Schöpfers zu einer Gruppe ab, in welcher sein Werk verbreitet wird (Verlagsgesellschaft, Freundeskreis, mehr oder weniger exklusive Galerie). Die Beziehung ist hier direkt: von Mensch zu Mensch, von Wille zu Wille. In der zweiten spielen die Massenverbreitungsmittel mit, d.h. das Prinzip der Kopie und damit die Vervielfältigung des Werkes, die oft recht gegensätzliche Aspekte zeigt, z.B. im Falle einer Skulptur, deren Vervielfältigung nur fotografisch sein kann, also das Werk in zwei Dimensionen zwängt. Meistens schiebt sich zwischen diese beiden Etappen eine dritte, die des Mikromilieus, das in der Gesamtheit seiner Aspekte die „intellektuelle Stadt“ bildet.
  2. Sämtliche Verbreitungssysteme besitzen auf jeder Ebene eine eingebaute Rückkoppelung. Damit ist gesagt, daß die Handlungen der kreativen Individuen oder Gruppen nicht unbewußt und blind sind, sondern die Ergebnisse berücksichtigen. Praktisch nehmen diese Reaktionen oder Ergebnisse in den eben unter 1. geschilderten beiden Etappen sehr verschiedene Formen an. Die Reaktion der Gruppe von Individuen auf die Handlungsweise des Künstlers oder Wissenschaftlers und ihre Rückwirkung auf ihn ist im wesentlichen durch psychologische Faktoren bedingt; sie beeinflußt die geistige Haltung des Schöpfers, seine intellektuelle Position, seine Pläne und damit seine zukünftige Produktion. Dagegen hat die Reaktion im Stadium der Verbreitungssysteme wirtschaftlichen Charakter. Sie gehört zu jener Ökonomie der Kultur, die die Massenmedien ins Leben gerufen haben und geht von existierenden Werken aus, auf die sie eine Filterung ausübt, ohne damit die Werke selbst zu verändern.
  3. Unabhängige von ihrer sonstigen Natur sind die Reaktionssysteme fast immer vielfach gegliedert. Zum Beispiel beeinflußt die öffentliche Meinung die Politik einer Galerie; die Einkünfte des Verlegers beeinflussen die künftigen Werke eines Autors. Dabei sind aber fast immer mehrere Reaktionssysteme parallel geschaltet und ihre Einwirkungen laufen manchmal in verschiedenen Richtungen. Jedes Reaktionssystem bildet selbst einen geschlossenen Mechanismus. So ist der der literarischen und musikalischen Kritik wohlbekannt; der der öffentlichen Meinungsforschung ist sehr rational und objektiv; während andere Mechanismen sehr differenziert und durch besondere Faktoren orientiert sind, wie z.B. die Unterhaltungen bei der Eröffnung einer Kunstausstellung.

Jedenfalls sind alle diese sogenannten „vierpoligen“ Reaktionssysteme stets — sobald man sie definiert hat — durch zwei allgemeine numerische Größen charakterisiert: Die erste ist die Bedeutung (im quantitativen Sinn) ihrer Einwirkung, das „Gewicht“ mit dem sie auf dem weiteren Verhalten des Organismus, mit dem sie gekoppelt sind, lasten: Gewicht der öffentlichen Meinung, Gewicht der Kritik, Einfluß des Interesses, das eine wissenschaftliche Doktrin erregt, usw. Diese Größe ist algebraisch; sie kann actio oder reactio sein und zu Verstärkung oder Blockierung führen. Die zweite, von der ersten so gut wie unabhängig, ist die Verzögerung, mit der die Reaktion sich auswirkt. Die öffentliche Meinung ist ein fortschreitender Mechanismus, der sich im Laufe der Zeit entwickelt und einige Zeit braucht, um die späteren Werke des Romanciers oder die Politik der Kunstgalerie zu beeinflussen; das gleiche gilt für die Entschlüsse des Programmbeirats einer Rundfunkstation. Es ist die Aufgabe der Wissenschaft, aus der Wirklichkeit verständliche Abstraktionen abzuleiten. Daher muß eine Untersuchung der Kulturzyklen solche Größen unter einem statistischen Aspekt und mit größtmöglicher Vereinfachung zu begreifen suchen.