084 Autonomie und ihre Funktionsstörungen

Autonomie oder Selbststeuerung ist ein Merkmal aller Organisationen, deren Verhalten durch eine zyklische Abfolge von auf den Entscheidungszyklus selbst zurückwirkenden Entscheidungen gelenkt wird. Eine einfache Organisation dieser Art empfängt eine Information über ein äußeres Ziel und wird von ihrem eigenen inneren Ungleichgewicht zur Annäherung an dieses Ziel getrieben; auf der nächsten Stufe ihres Verhaltens wird sie durch den Empfang von Informationen gelenkt, die sowohl das Ziel wie ihr eigenes Verhalten und ihre Position gegenüber dem Ziel betreffen. Auf diese Weise empfängt sie Informationen, die darüber Aufschluß geben, wie weit sie vom Ziel noch entfernt ist oder wie weit sie schon über das Ziel hinausgegriffen hat; unter gewissen Bedingungen dient diese Information dazu, ihre Annäherungsweise zu korrigieren und sie durch eine Reihe von immer kleiner werdenden Fehlleistungen hindurch bis zur Erreichung des Zieles zu lenken. Eine komplexere Organisation dieser Art kann in der Lage sein, zwischen der Verfolgung mehrere Ziele abzuwechseln oder unter gewissen Bedingungen ihre innere Struktur teilweise so zu verändern, daß sie sich selbst neue Ziele setzt.
Um wirklich autonom zu sein, müssen solche komplexen selbststeuernden Organisationen auch einen breitgestreuten Vorrat gespeicherter Daten aus der Vergangenheit bei sich tragen und die Entnahme dieser Erinnerungen mit Hilfe von Rückkopplungsprozessen regeln, die im wesentlichen den Prozessen gleichen, mit denen sie sich Informationen aus der Außenwelt beschaffen. Zur Autonomie gehört also die Rückkopplung eines aus dem Gedächtnis entnommenen Datenstromes in einen Strom von Entscheidungen, die das aktuelle Verhalten betreffen. Die Stellen, an denen diese zwei Arten von Kommunikationskanälen zusammentreffen, sind die strategisch wichtigen Stellen des Entscheidungssystems. Wenn wir fragen, wo in einer großen Organisation das »Selbst« dieser Organisation konzentriert ist, dann fragen wir im Grunde nach der Position der Stellen, die für die Steuerung der Organisation am entscheidensten sind.

Die hauptsächlichen Ansammlungen von Erinnerungen (die sich in einer Organisation in den Köpfen einiger weniger Personen befinden können) und die hauptsächlichen Knotenpunkte der Entscheidungskanäle, an denen diese Erinnerungen auf die aktuelle Entscheidungsbildung einwirken, sind in diesem Sinne strategische Entscheidungsstellen. Die Anordnung solcher Entscheidungsstellen kann im Lernprozeß von großer Bedeutung sein. Von außen her gesehen lernt eine Organisation, wenn sie auf die Wiederholung eines unveränderten Reizes mit einer beobachtbaren Veränderung ihres Verhaltens reagiert. Von innen her gesehen ist eine solche wiederholte Veränderung des Verhaltens nur möglich aufgrund eines inneren Strukturwandels. Gewöhnlich wird sich eine solche innere Strukturveränderung entweder auf den Inhalt und Verteilungszustand von Erinnerungen oder auf die Anordnung und Reihenfolge der Entscheidungsstellen oder auf beides zugleich beziehen.

Individuen wie auch große soziale oder politische Organisationen können also lernen, ihr Verhalten laufend zu ändern. Sie können ihre Aufmerksamkeit in eine neue Richtung lenken, einzelne Präferenzen verändern und auch die Struktur und Konsistenz größerer Teile ihres Präferenzensystems modifizieren. Alles, was sie zu irgendeinem Zeitpunkt in der Außenwelt tun, ist ein Ausdruck der Verhaltenswahrscheinlichkeiten, die ihrer inneren Struktur in diesem Augenblick innewohnen. In diesem Sinne sagt man von Personen, sie handelten »Ihrem Charakter gemäß« oder entsprechend ihren inneren Bedürfnissen, Trieben und Persönlichkeitsstrukturen. Von politischen Parteien oder Regierungen sagt man, sie handelten gemäß den politischen und sozialen Präferenzen der Organisationen und sozialen Gruppen, aus denen sie sich zusammensetzen oder auf deren Unterstützung sie angewiesen sind; von souveränen Staaten heißt es zuweilen, ihre auswärtigen Beziehungen würden weitgehend von ihrer Innenpolitik bestimmt.

Unsere Darstellung der Arbeitsweise selbständig handelnder Organisationen scheint darauf hinzudeuten, daß diese Auffassungen nur teilweise zutreffend sind. Jede selbständig handelnde Organisation muß aus ihrer Umwelt wesentliche Informationen beziehen und ihr äußeres Verhalten entsprechend modifizieren. Zugleich aber muß sie die Auswirkung ihres eigenen, von der Umwelt modifizierten Verhaltens wieder an sich selbst zurückmelden. Je größer das Maß ihrer Autonomie, desto größer muß das Ausmaß und die Leistungsfähigkeit der Speicheranlagen sein, die sie benutzt; je leistungsfähiger diese Speicheranlagen sind, desto wahrheitsgetreuer werden sie die Informationen speichern, die sich aus der sich verändernden Umwelt und den wechselnden Reaktionen der Organisation auf diese Umwelt ergeben. Jedes selbständig handelnde System muß deshalb, während es handelt, seine eigenen Erinnerungen und seine innere Struktur laufend umgestalten. Diese internen Veränderungen können bei jedem einzelnen Schritt groß oder klein ausfallen, ihr kumulativer Effekt wird auf jeden Fall beachtlich sein. Wenn Soziologen wie Don Luigi Sturzo die Vorstellung von einer kollektiven »Persönlichkeit« auf Völker und Staaten übertrugen, so können wir auf diese »Persönlichkeit« vielleicht den Gedanken Jean-Paul Sartres anwenden, daß wir in jedem Augenblick unseres Lebens gemäß unserer Persönlichkeit handeln, sie aber zugleich mit jeder Entscheidung unausweichlich umgestalten. Jedes autonome Entscheidungssystem wird nach dieser Darstellung wahrscheinlich früher oder später seine innere Struktur neu ordnen. Ob diese Umgestaltung lebenserhaltend oder pathologisch (in der Terminologie Robert K. Mertons »funktional« oder »dysfunktional«) sein wird, hängt davon ab, ob sie die Wahrscheinlichkeit, daß das System künftig erfolgreich funktionieren wird, erhöht oder vermindert, insbesondere auch davon, ob sie die künftige Lernleistung des Systems steigert oder nicht.