091 Heraklits „System“

Eh‘ sich’s nicht rundet zu einem Kreis, ist kein Wissen vorhanden.
Ehe nicht einer alles weiß, ist nicht die Welt verstanden.
J. W. v. Goethe

 

Innerhalb der europäischen Philosophiegeschichte sind die ersten brauchbaren Zeugnisse dafür, daß die Denkform mit der Weltanschauung in einem festen organischen Zusammenhang steht, die Fragmente des Herakleitos, des „dunklen“ Philosophen der Antike, von dessen Werk der durch Nietzsche als Erzrationalist gekennzeichnete Sokrates gesagt haben soll: „Was ich davon verstanden habe, ist trefflich; ich glaube auch das, was ich nicht verstanden habe; man müßte nur einen Delischen Taucher dazu haben.“

[…]

Der Denkform Heraklits, in der Gegensätze in einem Gedankenkreis aufgehoben werden, entspricht sein Weltbild, Von allen Gegensätzen hat keiner ihn so tief ergriffen und im Innersten bewegt wie der von Leben und Tod, Geborenwerden und Sterben. Wie andere vor ihm, so schreibt auch er über die Natur, Περὶ Φύσεως. Was bedeutete aber den Vorsokratikern das Wort Physis! Herzuleiten von φῠ́ω, wachsen (…), schließt dieser Begriff für sie zunächst die Vorstellung des Entstehens und Vergehens der Organismen in sich, und der ganze Kosmos ist für sie ein φυτσν oder ein ζῶον). Auch der Organismus zeigt in seinem Lebensprozeß den Kreislauf, der mit dem Samen beginnt, dem Einen, aus dem das Ganze herauswächst, das sich wieder in Einem, dem Samen, als dem Ziel seiner Entwicklung zusammenfaßt. Der Organismus stirbt, aber in dem von ihm erzeugten Samen hat er den Anfang neuen Lebens zurückgelassen.

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Bauen wir Heraklits „System“ von innen her auf, so stellt es sich dar als zusammengefügt aus konzentrischen Kreisläufen, von denen jeder diametral gegenüberliegende Gegensätze verbindet:
1. Der einzelne Satz der menschlichen Rede geht von einem Anfang zu einem diesem entgegengesetzten Ende, um von ihm zum Anfangsbegriff zurückzukehren.
2. Die menschliche Seele wandert vom Leben zum Tode und vom Tode wieder zum Leben.
3. Die ganze Welt entfaltet sich aus einem Element, dem Feuer, zu allen Elementen, um aus allen wieder zu einem zu werden.