Das programmierte Dasein

Schicksal
Bedingtheit
Programm

Flusser, Vilém (1997). Nachgeschichte. Eine korrigierte Geschichtsschreibung. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch Verlag. S.22

Daß unser Dasein in der Welt programmiert ist, daß die Welt selbst programmiert ist, ist eine relativ neue Vorstellung. Viele damit verbundene Aspekte sind noch nicht ins Bewußtsein gedrungen. Von alters her sind wir gewohnt, die Vorstellung eines vom Schicksal gelenkten Daseins zu hegen, und die Naturwissenschaften haben in uns die Vorstellung eines von der Natur bedingten Daseins geweckt. Die Gegenwart fordert uns auf, diese drei Vorstellungen — Schicksal, Bedingtheit, Programm — neu zu durchdenken. Unsere religiösen Traditionen und die dahinterliegenden mythischen Grunderfahrungen entwerfen ein Bild unseres Daseins, wonach die Welt und wir selbst einer Absicht unterworfen sind, welche auf ein Ziel hinsteuert. Die Dunkelheit dieser Absicht, die Verschwommenheit dieses Ziels und die geheimnisvolle menschliche Fähigkeit, sich der Absicht entgegenzustellen und andere Ziele zu verfolgen, sind uns geläufige Probleme. Die Naturwissenschaften, in Opposition zu den religiösen Traditionen, entwerfen ein anderes Weltbild. Jedes Ereignis ist darin die Folge von Ursachen und die Ursache von Folgen, und unser Dasein ist in ein unüberschaubares Netz von sich einander überlagernden Kausalketten eingebettet. Beide Weltbilder erweisen sich gegenwärtig auf seltsame Weise als unhaltbar, nämlich als naive Extrapolationen eines Sachverhalts, den man einen ›programmatischen‹ nennen könnte. Und zwar sind es einerseits erkenntnistheoretische, andererseits politische Überlegungen, welche uns die Naivität der beiden Weltbilder aufdecken.