Der institutionelle Rahmen moderner Demokratien
Gleiche Freiheitsrechte
Demokratische Beteiligung
Regierung durch öffentliche Meinung
Habermas, Jürgen (2008). Hat die Demokratie noch eine epistemische Dimension? · Empirische Forschung und normative Theorie. In: Jakowatz, Stefan (2008). Politische Soziologie. Bonn: GESIS-IZ Sozialwissenschaften. S.10. {siehe auch: Habermas, Jürgen (2008). Ach, Europa. Kleine Politische Schriften XI. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.} |
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Der institutionelle Rahmen moderner Demokratien fügt drei Elemente zusammen: die private Autonomie von Bürgern, die das Recht haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen; die demokratische Staatsbürgerschaft, also die gleichmäßige Inklusion freier und gleicher Bürger in die politische Gemeinschaft; und eine unabhängige politische Öffentlichkeit, die als Sphäre freier Meinungs- und Willensbildung Staat und Zivilgesellschaft miteinander verbindet. Die funktionale Trennung des administrativen Staates von einer kapitalistischen Wirtschaft erklärt, warum moderne Gesellschaften, wenn sie demokratisch verfasst sind, auf das vermittelnde Element eines öffentlichen Raumes angewiesen sind, in dem spontane Beiträge und Stellungnahmen der Bürger Resonanz finden können. Unangesehen der Vielfalt der Verfassungstexte, Rechtsordnungen, politischen Einrichtungen und Praktiken bilden diese drei Elemente überall den normativen Kern demokratischer Rechtsstaaten. Und auf diese werde ich mich im Folgenden beschränken.
Das Verfassungsdesign sorgt (1) für den rechtsstaatlichen Schutz der Privatsphäre durch ein System von gleichen Grundfreiheiten für alle Bürger, die lediglich durch die Freiheitsrechte der anderen begrenzt werden (Kants Rechtsprinzip); Zugang zu unabhängigen Gerichten, die allen den gleichen Rechtsschutz gewähren; und die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Rechtsprechung und Exekutive, die die Bindung der Öffentlichen Verwaltung an Recht und Gesetz garantiert.
Das Design sorgt (2) für die politische Teilnahme von möglichst vielen interessierten Bürgern durch gleiche Assoziations-, Teilnahme- und Kommunikationsrechte für alle; periodische Wahlen und gegebenenfalls Referenden auf der Grundlage eines inklusiven und egalitären Wahlrechts; – den Wettbewerb zwischen verschiedenen Parteien, Plattformen und Programmen; und das Mehrheitsprinzip bei Entscheidungen in repräsentativ zusammengesetzten Körperschaften.
Das Design sorgt (3) für das angemessene Funktionieren einer bürgernahen politischen Öffentlichkeit durch die Trennung von Steuerstaat und Wirtschaftsgesellschaft (wobei die grundsätzlich gewährleisteten individuellen ökonomischen Freiheiten nicht schon eine neoliberale Wirtschaftsverfassung präjudizieren), Pressefreiheit, Medienvielfalt und Informationsfreiheit; und Regelungen, die den Zugang des Massenpublikums und der Zivilgesellschaft zur politischen Öffentlichkeit garantieren sowie der politischen, sozialen oder ökonomischen Vereinnahmung von Arenen öffentlicher Kommunikation vorbeugen.
Diese drei Elemente – gleiche Freiheitsrechte, demokratische Beteiligung und Regierung durch öffentliche Meinung – sind zwar in der Familie der Verfassungsstaaten grundsätzlich zu einem einzigen Design verschmolzen, jedoch in verschiedenen Traditionen in jeweils anderer Weise transitiv geordnet: Die liberale Tradition verrät eine Präferenz für die Freiheiten der Gesellschaftsbürger, während die republikanische und die deliberative Tradition jeweils die Teilnahme aktiver Staatsbürger an der demokratischen Willensbildung oder die Formierung möglichst rationaler öffentlicher Meinungen betonen.