Rechtsidee

Gerechtigkeit
Zweckmäßigkeit
Rechtssicherheit

Radbruch, Gustav (1922 / 1956). Rechtsphilosophie. Stuttgart: K.F. Koehler Verlag. S.94.

Der Rechtsbegriff, ein Kulturbegriff, d. h. ein wertbezogener Begriff, drängte uns zum Rechtswert, zur Rechtsidee: Recht ist, was seinem Sinne nach der Rechtsidee zu dienen bestimmt ist. Die Rechtsidee fanden wir in der Gerechtigkeit und bestimmten das Wesen der Gerechtigkeit, der austeilenden Gerechtigkeit, als Gleichheit, gleiche Behandlung gleicher, entsprechend ungleiche Behandlung verschiedener Menschen und Verhältnisse. An der Gerechtigkeit vermochten wir zwar den Rechtsbegriff zu orientieren, aber nicht den erschöpfenden Leitgedanken für die Ableitung des Rechtsinhalts zu gewinnen. Denn Gerechtigkeit weist uns zwar an, Gleiche gleich, Ungleiche ungleich zu behandeln, sagt uns aber nichts über den Gesichtspunkt, unter dem sie zunächst einmal als gleich oder ungleich zu kennzeichnen seien ; sie bestimmt ferner nur das Verhältnis, aber nicht die Art der Behandlung. Beide Fragen können nur aus dem Zwecke des Rechts beantwortet werden. Neben die Gerechtigkeit trat damit als zweiter Bestandteil der Rechtsidee die Zweckmässigkeit. Nun ließ sich aber die Frage nach Zweck und Zweckmäßigkeit nicht eindeutig beantworten, sondem nur relativistisch durch die systematische Entwicklung der verschiedenen Rechts- und Staats-, der verschiedenen Parteiauffassungen. Dieser Relativismus kann aber nicht das letzte Wort der Rechtsphilosophie bleiben. Das Recht als Ordnung des Zusammenlebens kann nicht den Meinungsverschiedenheiten der Einzelnen überlassen bleiben, es muß eine Ordnung über allen sein. Damit tritt uns eine dritte ebenbürtige Forderung an das Recht, ein dritter Bestandteil der Rechtsidee entgegen, die Rechtssicherheit. Die Sicherheit des Rechts fordert Positivität des Rechts: wenn nicht festgestellt werden kann, was gerecht ist, so muß festgesetzt wer­den, was rechtens sein soll und zwar von einer Stelle, die, was sie festsetzt, auch durchzusetzen in der Lage ist. Die Positivität des Rechts wird damit in höchst merkwürdiger Weise selbst zur Voraussetzung seiner Richtig­keit: es gehört eben so sehr zum Begriffe des richtigen Rechts, positiv zu sein, wie es Aufgabe des positiven Rechts ist, inhaltlich richtig zu sein.