Hans Blumenberg: Von der Urgemeinde zur Kirche

Naherwartung
Parusieverzögerung
Institutionalisierung

Sommer, Manfred (2015) Wirklichkeit auf Widerruf. In: Heidgen, Michael/ Koch, Matthias/ Köhler, Christian (2015). Permanentes Provisorium: Hans Blumenbergs Umwege. München: Wilhelm Fink Verlag. S.

Die Beständigkeit, die den antiken Kosmos ausgezeichnet hat, findet im Christentum ihr Ende. Das geschieht in zwei Phasen. Die erste Änderung geschieht im frühen Christentum: es geht um den Erlösergott und die Welterlösung. Die zweite Änderung geschieht im späten Mittelalter: es geht um den Schöpfergott und die Welterhaltung. In der Legitimität der Neuzeit zeigt Blumenberg, dass das Konzept der Säkularisierung unterstellt, die Neuzeit sei eigentlich nichts anderes als die illegitime Fortsetzerin des Mittelalters. Zu den Thesen, die Blumenberg abweist, gehört die, dass die moderne Geschichtsphilosophie nur die säkularisierte, also verweltlichte und somit innerweltliche Gestalt der christlichen Eschatologie sei. Blumenberg macht darauf aufmerksam, dass es – jenseits der Frage von Immanenz und Transzendenz – bereits der Form nach einen so gravierenden Unterschied gibt, dass das andere nicht aus dem einen entstanden sein kann. Denn die neuzeitliche Geschichtsphilosophie rechnet mit einem unendlichen Fortschritt, die Eschatologie hingegen mit einem unmittelbar bevorstehenden Ende der Welt. Naherwartung, Parusieverzögerung, Institutionalisierung: das sind die drei Phasen, in denen sich die christliche Urgemeinde zur Kirche fortbildet. Bekanntlich erwarteten die ersten Jünger die Wiederkehr des Herrn binnen kurzer Frist. Doch dann wurde die Zeit, in der sich nichts dergleichen tat, lang und länger, und das Warten – mit Wilhelm Busch gesagt – bang und bänger. Schließlich richtete die neue Gemeinschaft sich dauerhaft in der Welt ein mit kanonischen Schriften, festen Ritualen und tradierbaren Ämtern. Blumenberg bringt das so auf den Punkt: „Hatte die Urgemeinde noch nach dem Kommen ihres Herrn gerufen, so bittet die Kirche alsbald pro mora finis, um Aufschub des Endes.“