Über die konservative Funktion der Politik
Schutz der Minderheiten
Herrschaft der Mehrheit
Institutionalisierung von Meinungsverschiedenheiten
Deutsch, Karl W. (1966). Politische Kybernetik. Modelle und Perspektiven (The Nerves of Government). Freiburg i. Br.: Verlag Rombach. S.337. |
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Beispiele für die konservative Funktion der Politik findet man in vielen Kulturen. Es ist vielleicht eine Eigenheit abendländischer Politik, daß sie einen weiten Bereich bedeutsamer Verfahrensweisen zur Beschleunigung der Innovation erschlossen hat. Zu den wichtigsten dieser Verfahrensweisen zählen vielleicht die folgenden drei: die Herrschaft der Mehrheit, der Schutz der Minderheiten und die Institutionalisierung von Meinungsverschiedenheiten. Wir haben schon weiter oben ausgeführt, daß autonome Organisationen häufig dazu neigen, interne oder im engeren Lebenskreis entstehende Informationen sowie wohlvertraute Daten aus der Vergangenheit höher zu bewerten als Daten und Informationen, die aus neueren oder umfassenderen Erfahrungsbereichen stammen. Widerstand gegen jede Veränderung und Innovation ist also unter Umständen ein »Berufsrisiko« autonomer Organisationen. Politische Strukturen, die zu ihrem Funktionieren der Einstimmigkeit bedürfen — wie dies etwa in der Dorfpolitik des Orients vielfach der Fall ist — sind geeignet, die Geschwindigkeit des sozialen Wandels sehr weit herabzudrücken. Die Herrschaft der Mehrheit nach abendländischem Muster erlaubt dagegen viel schnellere Veränderungen. Zugleich können abendländische Traditionen des Minderheitenschutzes verhindern, daß die Schnelligkeit einer von der Mehrheit verfügten Veränderung die Integrität und Würde der andersdenkenden Individuen oder Gruppen verletzt oder die den sozialen Zusammenhalt garantierenden Bande und Kommunikationskanäle zerreißt. Und schließlich schützt die Institutionalisierung von Meinungsverschiedenheiten und die Einrichtung allgemein zugänglicher Kanäle und Methoden, die der Bekundung von Kritik und Selbstkritik und der Verbreitung von Gegenvorschlägen und neuen Anregungen dienen, nicht allein die Mehrheit von gestern, sondern sie schafft auch potentielle Kristallisationspunkte für die Mehrheiten von morgen. Das Zusammenwirken der Herrschaft der Mehrheit, des Schutzes der Minderheit und der institutionalisierten Meinungsverschiedenheit, verstärkt noch durch einen systematisierenden, analytischen, kritischen und kombinatorischen Denkstil, verleiht den abendländisch geprägten Gesellschaften und politischen Systemen ein ungewöhnlich reichhaltiges Reservoir von Hilfsmitteln und Instrumenten zur Bewältigung rascher sozialer Lern- und Innovationsprozesse. Wenn auch andere Kulturen diese Institutionen in ihrer abendländischen Form wohl kaum unverändert übernehmen können, so werden sie doch irgendwie dafür sorgen müssen, daß die Funktionen umfassender Nachrichtenbeschaffung und rascher Neuorientierung auch bei ihnen auf die eine oder andere Weise gewährleistet werden.