Über das ›Erkennen‹

Gemeintes Wissen (Einbildung)
Erkenntnis der Vernunft
Intuitive Erkenntnis

Spinoza, Baruch de (1677 / 2015). Ethik in geometrischer Ordnung dargestellt. Hamburg: Felix Meiner Verlag. S. 181f.

Wer z.B. häufiger die Statur der Menschen mit Bewunderung betrachtet hat, wird unter dem Wort »Mensch« ein Tier von aufrechter Statur verstehen; wer dagegen gewohnt ist, an Menschen etwas anderes ins Auge zu fassen, wird sich ein anderes allgemeines Vorstellungsbild bilden, etwa der Mensch sei ein Tier, das lachen kann, ein federloses zweifüßiges Tier oder ein vernünftiges Tier. Und so wird auch bei anderen Dingen ein jeder sich je nach der Disposition seines Körpers allgemeine Vorstellungsbilder bilden. Kein Wunder also, daß unter den Philosophen, die natürliche Dinge durch bloße Vorstellungsbilder von Dingen haben erklären wollen, so viele Streitereien entstanden sind.
A n m e r k u n g 2: Aus allem, was oben gesagt worden ist, ist offensichtlich, daß wir [einerseits] viele Dinge wahrnehmen und [andererseits] Begriffe bilden, die allgemein sind:
1. aus Einzeldingen, die uns durch die Sinne in einer Weise vergegenwärtigt worden sind, die verstümmelt ist, verworren und ohne Ordnung für den Verstand (siehe Folgesatz zu Lehrsatz 29 dieses Teils); schon länger pflege ich deshalb Wahrnehmungen dieser Art Erkenntnis aus unbestimmter Erfahrung zu nennen.
2. aus Zeichen, z.B. daraus, daß wir, nachdem wir gewisse Worte gehört oder gelesen haben, uns an Dinge erinnern und aus ihnen gewisse Ideen bilden, die denen gleichen, durch die wir Dinge vorstellen (siehe Anmerkung zu Lehrsatz 18 dieses Teils). Diese beiden Weisen, Dinge zu betrachten, werde ich künftig Erkenntnis der ersten Gattung, Meinung oder Vorstellung nennen.
3. endlich daraus, daß wir Gemeinbegriffe und adäquate Ideen der Eigenschaften von Dingen haben (siehe Folgesatz zu Lehrsatz 38, Lehrsatz 39 mit Folgesatz und Lehrsatz 40 dieses Teils); diese Weise der Betrachtung werde ich Vernunft oder Erkenntnis der zweiten Gattung nennen.
[4.] Außer diesen beiden Gattungen von Erkenntnis gibt es, wie ich im folgenden zeigen werde, noch eine dritte Gattung, die wir intuitive Erkenntnis nennen wollen. Und diese Gattung des Erkennens schreitet von der adäquaten Idee dessen, was die Essenz gewisser Attribute Gottes ausmacht, weiter zu der adäquaten Erkenntnis der Essenz von Dingen.
Ich will dies alles an einem Beispiel erläutern. Es sind drei Zahlen gegeben, zu denen man eine vierte finden möge, die sich zu der dritten verhält wie die zweite zu der ersten. Kaufleute multiziplieren ohne Zögern die zweite mit der dritten und dividieren das Produkt durch die erste, und dies, weil sie entweder noch nicht vergessen haben, was sie von ihren Lehrern ohne irgendeinen Beweis gehört haben, oder weil sie es oft bei ganz einfachen Zahlen herausgefunden haben, oder endlich kraft des Beweises von Lehrsatz 19 im 7. Buch des Euklid, nämlich aus der gemeinsamen Eigenschaft von Proportionalzahlen. Bei ganz einfachen Zahlen ist freilich nichts davon erforderlich. Sind z.B. die Zahlen 1, 2 und 3 gegeben, gibt es niemanden, der nicht sieht, daß 6 die vierte Proportionalzahl ist, und das sehen wir viel klarer, weil wir gerade diese Zahl, die vierte, allein aus dem Verhältnis der ersten zur zweiten Zahl, das wir mit einem Blick sehen, erschließen.