Arten des Verhaltens

Skeptiker
Kurzschluß-Mensch
Wartender

Kracauer, Siegfried (1922 / 1969). Die Wartenden. In: ders. Das Ornament der Masse. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S. 113ff.

Um nun zu jenen in der Leere verweilenden, ihrer Situation sich bewußten Menschen zurückzukehren: welche Haltung werden sie angesichts der ihnen sich eröffnenden Bahnen einnehmen? Schaltet man von vornherein die beiden Fälle aus, daß entweder die vor der Entschließung Stehenden zu Betäubungen greifen und, um nur nicht sich entschließen zu müssen, in ein unwirkliches Schattendasein von Zerstreuungen entrinnen, oder daß sie konfliktlos in den echten Glauben eingehen und derart, ohne zu straucheln, einer höheren Stufe der Wirklichkeit teilhaftig werden, so erweisen sich drei Arten des Verhaltens im großen und ganzen als möglich.

Die erste Art ist die des prinzipiellen Skeptikers, der seinen maßgebenden Vertreter vielleicht in Max Weber gefunden hat. Gemeint ist der Mensch, der den unheimlichen Ernst der Situation klaren Blicks erfaßt, zugleich aber die Überzeugung in sich trägt, daß er und seinesgleichen sich ihr nicht entringen können. Sein intellektuelles Gewissen empört sich gegen das Beschreiten der ringsum sich darbietenden Wege zu mutmaßlicher Erlösung, die ihm als ebenso viele Abwege und unstatthafte Rückzüge in die Sphäre willkürlicher Begrenzung erscheinen. So entschließt er sich denn aus innerer Wahrhaftigkeit dazu, dem Absoluten den Rücken zu kehren, das Nichtglauben-Können wird bei ihm zum Nichtglauben-Wollen, Haß gegen die Glaubensschwindler — Haß, in dem vielleicht schon vergessene, irgendwann einmal unterdrückte Sehnsucht nachbebt — treibt ihn zum Kampf für die »Entzauberung der Welt«, und in der schlechten Unendlichkeit des leeren Raums vollendet sich sein Dasein.
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Die zweite Haltung, der man ungleich häufiger und begreiflicherweise gerade in unseren Tagen besonders häufig begegnet, ist die der Kurzschluß-Menschen. Ob sie nun in diesem oder jenem Lager anzutreffen sind – man trifft sie aber überall dort, wo in Angelegenheiten des Glaubens eine Lösung sich darzubieten scheint — gemeinsam ist ihnen allen, daß sie Hals über Kopf der Ode und dem Draußen entfliehen, um schnell in ein bergendes Gehäuse hineinzuschlüpfen. Da sie von weitem betrachtet und nicht nur äußerlich Echtgläubigen gleichen und überdies aus teilweise subjektiv ehrlicher Überzeugung heraus handeln, ist die psychologische und sachliche Bedenklichkeit ihrer Haltung nicht ganz leicht zu erkennen. Wohlgemerkt, nicht um die Nachprüfung individueller Glaubenswandlungen geht es hier – wer wollte sich auch vermessen, in seelische Tiefen irgendeines anderen Menschen hineinzuleuchten, die er kaum bei sich selber ergründen kann? — sondern um den Aufweis einer typischen Wandlung, die, wenn es bei ihr sein Bewenden hat, gerade nicht die Wandlung und Umkehr ist, auf die es eigentlich ankommt.
[…]
Allerdings, das letzte Wort darf er nicht behalten, da sonst die Welt völlig der Sinnlosigkeit überantwortet wäre. Wie aber dem furchtbaren Entweder-Oder beider Stellungnahmen, der des prinzipiellen Skeptikers und der des Kurzschluß-Menschen entrinnen? Übrig bleibt vielleicht nur noch die Haltung des Wartens. Wer sich zu ihr entschließt, der versperrt sich weder wie der trotzige Bejaher der Leere den Weg des Glaubens, noch bedrängt er diesen Glauben wie der Sehnsüchtige, den seine Sehnsucht hemmungslos macht. Er wartet, und sein Warten ist ein zögerndes Geöffnetsein in einem allerdings schwer zu erläuternden Sinne. Es mag sich leicht ereignen, daß ein solchermaßen Wartender auf dem einen oder anderen Weg die Erfülluns findet. Indessen wird man in diesem Zusammenhang vornehmlich jener Menschen zu gedenken haben, die nach wie vor heute noch vor verschlossenen Türen harren, die also, wenn sie das Warten auf sich nehmen, jetzt und hier Wartende sind.