„Denken“ ist nur ein Wort

„Sieht man näher zu, so sieht man bald,
daß es sich hier nicht um einen Einwand,
sondern um ein Forschungsgebiet handelt.“
Max Wertheimer

Nachfolgend eine Liste der hier verwendeten Begriffe zum Phänomen Denken, in der zeitlichen Reihenfolge ihrer Erscheinung. Damit soll keine phänomenologische Position markiert werden, die jeglichen Ursprung von Erkenntnis in den uns gegebenen Erscheinungen oder Tatsachen beschreibt. Vielmehr interessieren mich diese Begriffe, weil sie den Vorgang des Denkens figürlich werden lassen. Die damit zusammenhängenden Fragen erstrecken sich weit zurück in die Geistesgeschichte. Es ist vielleicht auch falsch, diese zu datieren. Denn sie beginnen nicht, sie sind immer schon da.

Gedankenformen, 1781

Immanuel Kant schrieb 1781 seine »Allgemeine Anmerkung zum System der Grundsätze: Es ist etwas sehr Bemerkungswürdiges, daß wir die Möglichkeit keines Dinges nach der bloßen Kategorie einsehen können, sondern immer eine Anschauung bei der Hand haben müssen, um an derselben die objektive Realität des reinen Verstandesbegriffs darzulegen. […] Solange es also an Anschauung fehlt, weiß man nicht, ob man durch die Kategorien ein Objekt denkt, und ob ihnen auch überall gar irgend ein Objekt zukommen könne, und so bestätigt sich, daß sie für sich gar keine Erkenntnisse, sondern bloße Gedankenformen sind, um aus gegebenen Anschauungen Erkenntnisse zu machen.«

Kant, Immanuel (1781 / 1956). Kritik der reinen Vernunft. Hamburg: Verlag von Felix Meiner. S.283.

Denkakt, 1913

In »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und Phänomenologischen Philosophie« schrieb Edmund Husserl 1913: »In der natürlichen Einstellung vollziehen wir schlechthin all die Akte, durch welche die Welt für uns da ist. Wir leben naiv im Wahrnehmen und Erfahren, in diesen thetischen Akten, in denen uns Dingeinheiten erscheinen, und nicht nur erscheinen, sondern im Charakter des »vorhanden« , des »wirklich« gegeben sind. Naturwissenschaft treibend, vollziehen wir erfahrungslogisch geordnete Denkakte, in denen diese, wie gegebenen, so hingenommenen Wirklichkeiten denkmäßig bestimmt werden, in denen auch auf Grund solcher direkt erfahrenen und bestimmten Transzendenzen auf neue geschlossen wird.«

Husserl, Edmund (1913 / 1976). Erstes Buch. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und Phänomenologischen Philosophie. 1. Halbband. Den Haag: Martinus Nijhoff. S.107.

Denkfigur und Denkprozess, 1913

Es war auch Husserl, der dem Begriff »Denken« den Begriff der »Figur« beigeordnet hat. In »Ideen zu einer reinen Phänomenologie und Phänomenologischen Philosophie« schreibt er: »Die Zeichnungen folgen daher normalerweise den Phantasiekonstruktionen und dem auf ihrem Grunde sich vollziehenden eidetisch reinen Denken nach und dienen hauptsächlich dazu, Etappen des vordem schon vollzogenen Prozesses zu fixieren, und ihn dadurch leichter wieder zu vergegenwärtigen. Auch wo im Hinblick auf die Figur »nachgedacht« wird, sind die neu sich anknüpfenden Denkprozesse ihrer sinnlichen Unterlage nach Phantasieprozesse, deren Resultate die neuen Linien an der Figur fixieren.«

Husserl, Edmund (1913 / 1976). Erstes Buch. Ideen zu einer reinen Phänomenologie und Phänomenologischen Philosophie. 1. Halbband. Den Haag: Martinus Nijhoff. S.147.

Denktechnik, 1919

In Psychologie der Weltanschauungen unterschied Karl Jaspers 1919 die scholastische Denktechnik, die experimentierende Denktechnik, die dialektische Denktechnik sowie die vier Ableitungen (1) Die undifferenzierten Gestalten, (2) die Verabsolutierung, (3) die Formalisierung und (4) das abstrakte Denken.

Jaspers, Karl (1919). Psychologie der Weltanschauungen. Berlin: Julius Springer. S.65ff.

Denkform, 1928

Hans Leisegang, 1928
Figur 1.

Der Philosoph und Physiker Hans Leisegang  (1890 – 1951) thematisierte Rationalitätsformen als ›Denkformen‹. Unser Denken bezieht sich wesentlich auf das Anschauliche, Leisegang entwickelte daraus einen formalen Zusammenhang zwischen Denk-Form und Welt-Anschauung: »Eine in sich geschlossene Denkform setzt zugleich eine ihr entsprechende Wirklichkeit voraus«. Vier Denkformen beschrieb Leisegang: (1) Gedankenkreis, (2) Kreis von Kreisen, (3) Begriffspyramide sowie (4) kreisförmige Entwicklung und gradliniger Fortschritt.

Leisegang, Hans (1928). Denkformen. Berlin, Leipzig: Walter de Gruyter. S.73.

Denkschemata, 1929

Der Mathematiker Alfred North Whitehead verwendete den Begriff Denk- oder Gedankenschema (engl. scheme of thought). In den einleitenden Überlegungen zur spekulativen Philosophie schreibt er: »Nachdem die Grundlage eines rationalen Lebens mit einer zivilisierten Sprache gelegt wurde, ist alles produktive Denken entweder durch die poetische Einsicht von Künstlern oder durch die phantasievolle Ausarbeitung von Denkschemata, die als logische Prämissen verwendet werden können, vorangegangen. In irgendeinem Maße ist der Fortschritt immer eine Transzendenz des Offensichtlichen.«

Whitehead, Alfred North (1929 / 1978). Process and Reality. An Essay in Cosmology. New York, London: The Free Press. S.9.

Denkstile, Denkkollektive, 1935

Der Mikobiologe Ludwik Fleck (1896 – 1961) sprach in einem soziologischen Sinne von Denkkollektiven und damit von sozialen Grenzen, innerhalb derer wissenschaftliche Gedanken oder Ideen Gültigkeit besitzen. »Je tiefer man in ein wissenschaftliches Gebiet eindringt, desto größer wird die Gebundenheit an das Denkkollektiv und desto unmittelbarer verbindet man sich mit dem Forscher. Kurz: es vermehren sich die aktiven Elemente des Wissens.« Fleck nahm dann auch bereits den Gedanken des vernetzten Denkens voraus. Er schrieb: »Parallel vollzieht sich eine andere Verschiebung: auch die Zahl der passiven, zwangsläufig sich ergebenden Beziehungen wächst, denn jedem aktiven Elemente des Wissens entspricht ein passiv, zwangsmäßig sich ergebender Zusammenhang.«
Fleck, Ludwik (1935 / 2012). Entstehung und Entwicklung einer wissenschaftlichen Tatsache. Einführung in die Lehre von Denkstil und Denkkollektiv. Frankfurt am Main: Suhrkamp. S.109,131.

Netz als Form der Nerventätigkeit (Verkörperung des Geistes), 1946

Das Denken in Relationen und Verknüpfungen ist wahrlich nicht neu, erinnert sei an die Heilige Schrift, die reich ist an echten Fischernetzen (theratron) und Netz-Metaphern. Warren McCullochs Arbeiten über die Form der Nerventätigkeit eröffnen ein neues Kapitel in der Wissenschaft. Die metaphysische Spekulation über den Geist weicht einem neuen, naturwissenschaftlichen Verständnis. Die Sprache, ihre Begriffe wie jeglicher phonetischer Symbolismus wird nun durch Buchstaben, Zahlen und Leerzeichen ersetzt. Warren McCulloch stellte sich folgende Frage: „Was ist eine Zahl, daß ein Mensch sie kennen kann, und ein Mensch, daß er eine Zahl kennen kann?“
McCulloch, Warren S. (1946 / 1952). Finality and Form. American Lecture Series. Springfield, Ill.: Charles C. Thomas.
Wiener, Norbert (1948). Cybernetics: or the Control and Communication in the Animal and the Machine: Or Control and Communication in the Animal and the Machine. Cambridge, Massachusetts: MIT Press.

Denken ist Plastik, 1949

Die synaptische Plastizität des Gehirns wurde 1949 erstmals auf der Grundlage der theoretischen Arbeiten von Donald Hebb als Mechanismus für Lernen und Gedächtnis vorgeschlagen. Die von ihm beschriebene Plastizitätsregel besagt, dass wenn ein Neuron die Aktivität eines anderen Neurons triggert, die Verbindung zwischen diesen beiden Neuronen potenziert wird. Plastizität ist also die Eigenschaft einzelner Synapsen, Nervenzellen oder auch ganzer Gehirnareale sich in Abhängigkeit ihrer Nutzung zu verändern. Die Neuroplastizität ist die Grundlage aller Lernprozesse (»Hebbsche Lernregel«). In einem anderen Zusammenhang erwähnte der Künstler Joseph Beuys Jahrzehnte später … »Denken ist bereits Plastik«.
Hebb, Donald O. (1949). The Organization of Behavior. New York: John Wiley & Sons.
Magistrat der Stadt Langen (Hrsg.)(1991). Denken ist bereits Plastik. Zeichnungen zur plastischen Theorie aus der Sammlung van der Grinten. Langen: Museum der Stadt Langen.

Bemerkung

Diese Zusammenstellung ist natürlich nur ein sehr kleiner Ausschnitt. Mit all den hier genannten Begriffen und Bedeutungen hatte oder habe ich es zu tun. Wer Interesse an einer ausführlichen Begriffssammlung hat, der findet diese bei Dirmoser, Gerhard. (2011). Collection of Figures of Thought. 10.1007/978-3-7091-0803-1_13.