Die drei reinmenschlichen Kunstarten in ihrem ursprünglichen Verein

Tanzkunst
Tonkunst
Dichtkunst

Wagner, Richard (1850). Das Kunstwerk der Zukunft. Leipzig: Wigand. S.43.

Jene drei künstlerischen Hauptfähigkeiten des ganzen Menschen haben sich zum dreieinigen Ausdrucke menschlicher Kunst unmittelbar und von selbst ausgebildet, und zwar im ursprünglichen, urentstandenen Kunstwerke der Lyrik, sowie in dessen späterer bewußtvoller, höchster Vollendung, dem Drama. Tanzkunst, Tonkunst und Dichtkunst heißen die drei urgebornen Schwestern, die wir sogleich da ihren Reigen schlingen sehen, wo die Bedingungen für die Erscheinung der Kunst überhaupt entstanden waren. Sie sind ihrem Wesen nach untrennbar ohne Auflösung des Reigens der Kunst; denn in diesem Reigen, der die Bewegung der Kunst selbst ist, sind sie durch schönste Neigung und Liebe sinnlich und geistig so wundervoll fest und lebenbedingend in einander verschlungen, daß jede einzelne, aus dem Reigen losgelöst, leben- und bewegungslos nur ein künstlich angehauchtes, erborgtes Leben noch fortführen kann, nicht — wie im Dreiverein — selige Gesetze gebend, sondern zwangvolle Regeln für mechanische Bewegung empfangend. Beim Anschauen dieses entzückenden Reigens der ächtesten, adeligsten Musen, des künstlerischen Menschen, gewahren wir jetzt die drei, eine mit der andern liebevoll Arm in Arm bis an den Nacken verschlungen; dann bald diese bald jene einzelne, wie um den anderen ihre schöne Gestalt in voller Selbstständigkeit zu zeigen, sich aus der Verschlingung lösend, nur noch mit der äußersten Handspitze die Hände der anderen berührend; jetzt die eine, vom Hinblick auf die Doppelgestalt ihrer festumschlungenen beiden Schwestern entzückt, ihr sich neigend; dann zwei, vom Reize der einen gerissen, huldigungsvoll sie grüßend, — um endlich Alle, fest umschlungen, Brust an Brust, Glied an Glied, in brünstigem Liebeskusse zu einer einzigen, wonniglebendigen Gestalt zu verwachsen. — Das ist das Lieben und Leben, Freuen und Freien der Kunst, der Einen, immer sie selber, und immer andere, überreich sich scheidenden und überselig sich vereinigenden.