096 Ist der Wille frei?

Der Begriff der Willensfreiheit spielt in der Diskussion um die Autonomie des Geistes gegenüber dem Gehirn eine besondere Rolle und ist eine Herausforderung an jeden neurobiologischen Physikalismus, sei er reduktionistisch oder nicht-reduktionistisch. Beim Begriff der Willensfreiheit gehe ich von der üblichen Vorstellung aus, daß ich mich entschließe, etwas zu tun, zum Beispiel gleich von meinem Stuhl aufzustehen oder heute abend ins Konzert zu gehen. Dies ist nach herkömmlicher Meinung ein mentales Ereignis, das als Willensakt auf das Gehirn einwirkt. Ich habe dabei die Empfindung, etwas zu tun, weil ich es so gewollt habe; der Willensakt ist der Verursacher der Handlung. Von meiner freien Willensentscheidung bin ich überzeugt, obwohl ich überhaupt nicht das Gefühl habe, ich hätte eine rein willkürliche Entscheidung getroffen, so wie wenn ich darum gewürfelt hätte, ob ich heute ins Konzert gehe oder nicht. Vielmehr kann ich in aller Regel gute Gründe für mein Tun angeben, und zwar unmittelbare Gründe, z. B. solche, die mich bewogen haben, genau dieses Konzert zu besuchen, als auch mittelbare Gründe, die damit zu tun haben, daß ich die im Konzertprogramm angegebenen Komponisten und Kompositionen und / oder das Orchester und den Solisten besonders mag, als auch noch indirektere, die mit der Tatsache zu tun habe, daß ich in einer musikliebenden Familie aufgewachsen bin. Man kann bei jeder Handlung die Kette dieser Gründe zurückverfolgen. Bei einigen Stationen dieser Kette wird sich herausstellen, daß man keine Wahl hatte, bei den meisten jedoch, daß man dies im Prinzip auch anders hätte machen können, aus guten Gründen aber so gemacht hat. Manchmal sind die Gründe sehr subtil, die Entscheidung geht hin und her, und man entscheidet sich schließlich mit Bauchschmerzen oder weil das Zögern einfach ein Ende haben muß.

Dies bedeutet: Bei der Willensfreiheit geht es nicht um die völlig willkürliche Entscheidung zwischen zwei gleichberechtigten Alternativen. Dies gilt auch für die meisten unserer Handlungen, bei denen gar kein ausdrücklicher Willensakt vorausging und die wir »so nebenbei« tun. Wir müssen einen separaten Willensakt überhaupt nicht fordern, wie dies viele Philosophen tun, wenn wir von Willensfreiheit sprechen. Vielmehr geht es um das Gefühl, daß die Entscheidung letztlich aus mir selbst kommt und nicht von außen aufgezwungen wurde. Die Frage ist nun: Spiegelt dieses Gefühl eine tatsächliche Entscheidungsfreiheit wider, oder ist sie eine Illusion?

Die Hirnforschung hat die Frage, was im Gehirn abläuft, bevor und während wir Bewegungen und Handlungen willentlich ausführen, gründlich untersucht, vor allem im Zusammenhang mit Erkrankungen der Motorik (Abb. 43). Willkürbewegungen wie Schreiben, Autofahren oder Klavierspielen sind zweckbestimmt und größtenteils erlernt. Ihre Ausführung verbessert sich mit zunehmender Übung. Dabei gilt: Je besser sie ablaufen, desto weniger ist eine bewußte Steuerung nötig; oft stört Bewußtsein sogar. Bei der Willkürmotorik sind folgende drei Gebiete der Großhirnrinde wichtig: Der primäre motorische Cortex (MC) steuert einzelne Muskeln und Muskelgruppen bei der Willkürbewegung, und der prämotorische Cortex (PMC) das komplexere Zusammenspiel von Muskeln und Gelenken. Der supplementär-motorische Cortex (SMA) kontrolliert komplexe Bewegungsabläufe und deren Planung. Diese motorischen Areale sind teils hierarchisch angeordnet, d. h., das SMA beeinflußt den PMC und dieser den MC, als auch parallel, indem sie separate Bahnen zu den subcorticalen motorischen Zentren haben.